Filmen in Zeiten von Corona: Drei Filme von Patrick Müller

Filmen in Zeiten von Corona: Drei Filme von Patrick Müller

SPELLBOUND (2021) / INTO THE REALM OF THE NIGHT (2022) / L’HIVER DE L’ÉTERNITÉ (2022)

Isolation und Reisebeschränkungen, Lockdowns, die kamen und gingen: die Corona-Pandemie stellte auch mich als Filmemacher vor neue Herausforderungen. Als ich eine geplante Reise zum Polarkreis, wo ich einen neuen Gedichtfilm drehen wollte, kurz vor dem weltweiten Lockdown im März 2020 absagen musste, war nichts mehr wie vorher. Also musste ich kreativ werden und versuchte, die Beschränkung kreativ zu nutzen. 

SPELLBOUND (Gebannt)

In meinen Filmen spielte schon immer die Veränderung der Wahrnehmung eine große Rolle, also versuchte ich im Januar 2021, eine künstlerische Entsprechung zu finden. Vor meinem Haus schneite es in dicken Flocken, es war wochenlang dunkel, was sich deutlich auf mein Gemüt schlug – schnell stellten sich gesundheitliche Probleme ein. In jener Stimmung begann ich nun, Gedichte von Emily Brontë zu lesen und stieß alsbald auf ihr Gedicht SPELLBOUND, welches sie 1837 als Heranwachsende verfasst hatte. Darin ist eine junge Frau auf mysteriöse Weise im Wald gefangen und unfähig, zu entkommen. Sie stirbt, wie gebannt, im Winter. In SPELLBOUND sind bereits die Keime von Emily Brontës Erwachsenenthemen zu erkennen: Willenskraft, Schicksal und Tod. Irgendwie erinnerte mich die Stimmung im Gedicht an meine eigene Situation und wie ein Surfer, der auf die richtige Welle wartete, wusste ich, dass richtige Idee nun gekommen war. Also nahm ich meine Bolex Rex2-Kamera und filmte auf hochempfindlichen 16mm-Kodakmaterial in der Dunkelheit.

Es war bei unter minus 10 Grad Celsius so kalt, dass ich die Kamera immer wieder aufwärmen musste, wenn sie einfror. Jede Entscheidung für oder gegen eine Kamerabewegung in der strengen Komposition war bewusst getroffen und erstmals kamen aufwendige Doppel- und Mehrfachbelichtungen zum Einsatz, um das Abgleiten in den Wahnsinn visuell darzustellen. Dann war ich erst einmal ratlos: Wer könnte den Brontë-Text überhaupt angemessen sprechen, wo könnte man ihn aufzeichnen, in einer Zeit, in der sich doch das ganze Land im Lockdown befand? Dem Internet sei Dank: Ich kontaktierte über eine Sprecherplattform die Londoner Schauspielerin Sarah Kempton, die den Text auf kongeniale Weise eingelesen hat. Der Chemnitzer Musiker Uwe Rottluff, damals noch unter seinem Künstlernamen Wellenvorm, schuf auf seinem EMS Synthi A Portabella eine besonders kühle Musik, die wie der titelgebender Bannzauber wirkte. Bei Ocho y pico in Madrid wurde das Material erstmals in 6,5K gescannt, so gut kann 16mm in HDR aussehen! Danach ging der Film, entweder digital oder als Filmkopie analog, zu den Filmfestivals: Während viele weltweit virtuell stattfanden oder weit entfernt waren, konnte ich wie auf glückliche Weise zu einigen Festivalorten auch persönlich reisen und meinen Film auf der großen Leinwand vor Publikum vorstellen. Zum 19. Filmfestival Münster etwa, dem 39. Festival Tous Courts in Aix-en-Provence oder dem Nature and Poetry Film Festival in Kopenhagen, letzteres sollte besonders denkwürdige Folgen für mich haben.

INTO THE REALM OF THE NIGHT (Ins Reich der Nacht)

Als ich im November 2021 beim Festival in Kopenhagen ankam, um meinen Kurzfilm SPELLBOUND vorzustellen, kam ich wie in eine andere Welt: Dänemark hatte in jener Zeit seine Corona-Regeln gelockert, weshalb sich nicht nur das dortige Alltagsleben normalisierte, sondern auch der alte Vergnügungspark Tivoli seine Pforten öffnete.

Von der melancholischen Stimmung zuhause kam ich nun in eine Art Zwischenreich, in dem andere Gesetze galten. Dieses Gefühl wollte ich nun filmisch ausdrücken und nahm meine einfache Bauer 88F in die Hand, legte den Schwarzweißfilm Fomapan 100R ein und filmte in der Nacht in Doppel 8! Doch diesmal ging alles schief, was schief gehen konnte: die Kamera stockte, ich öffnete mehrfach die Tür und versuchte mit und ohne Wechselsack zu ergründen, worin das Problem bestand. Dabei hatte ich ein ambitioniertes Konzept: der ganze Film sollte diesmal aus nächtlichen Doppelbelichtungen bestehen, nur ein Film wurde verwendet. Ich filmte also die eine Seite, wendete ihn, und filmte anschließend die Rückseite. Dann alles noch einmal.

Zwar konnte ich die Motivabfolge erahnen, letztlich war ich aber ganz der Magie des Filmemachens ausgeliefert – und ich lieferte mich gerne der Unberechenbarkeit aus! Eine Alternative gab es nun sowieso nicht mehr. Als der fertige Film von der Entwicklung bei Andec zurück war, staunte ich nicht schlecht, wie gut er doch geworden war, dass ich ihn nur bei wenigen Stellen schneiden musste. Wiederum mein treuer Mitstreiter Uwe Rottluff, diesmal erstmals unter seinem Namen, steuerte abermals eine traumschöne Musik bei, die zusammen mit den Bildern eine besondere Sogwirkung erzeugt. In dieses aufregende Zwischenreich der Nacht begibt man sich nur zu gern. INTO THE REALM OF THE NIGHT wurde zum meistgespielten Film in meiner kleinen Laufbahn als Filmemacher und erhielt im Juli 2022 den begehrten Jury-Preis der Dresdner Schmalfilmtage. In der Begründung hieß es: Es ist ein Film, der den Zuschauer in ein mystisches Universum entführt, in dem Musik und Bild aufeinanderprallen und Raum und Zeit miteinander verschmelzen.

L’HIVER DE L’ÉTERNITÉ (Der Winter der Ewigkeit)

Während der ganzen Corona-Zeit wanderten meine Gedanken immer wieder zu den vier Filmrollen in Doppel Super 8, die ich 2017 auf einer Reise zur sonnigen Odysseus-Insel Gozo gedreht hatte. Damals hatte ich bereits jenen philosophischen Text von Antoine de Saint-Exupéry im Sinn, der mich mit seinen Fragen über das Leben und die Sinnsuche seit meinem Studium im Jahr 2002 nicht mehr losgelassen hatte. Aber ich wusste, dass dieser Film ganz anders sein müsste, als meine bisherigen. Einerseits wollte ich gewissermaßen eine kleine Hommage an meine filmischen Idole Jean-Marie Straub und Danièle Huillet wagen (falls so etwas überhaupt möglich ist), die mich mit ihren strengen Kompositionen und ihrer Liebe zur Natur durch ihr Werk vor vielen Jahren ermutigt hatten, selbst eigene, kompromisslose Filme zu drehen. Andererseits benötigte ich für den anspruchsvollen Text eine französische Sprecherin und die passende Musik, am besten ein Ensemble, thematisch irgendwo zwischen Ligeti und Berg. Irgendwann fand ich dann den Mut und sprach Valérie Hendrich aus Frankreich auf Facebook an. Sie ist bildende Künstlerin und war mir mit einem eigenen Super-8-Film aufgefallen, der mir lange im Gedächtnis blieb. Meine Freunde war übergroß, als sie zusagte und sie den Text in einem professionellen Studio aufnahm. Als ich schließlich ihre Stimme zum Bildmaterial montierte wusste ich, dass das Filmprojekt anfängt, zu laufen und ich auf dem richtigen Weg war.

Dann sprach ich ein junges Ensemble in der sächsischen Stadt Chemnitz an, Ensemble C. Die jungen Musiker sahen den Rohschnitt, lasen Saint-Exupérys Buch und gruben sich in seine Welt, um eine ganz eigene, neue Musik zu ersinnen. Andreas Winkler von der Musikschule Chemnitz begleitete sie. Während der Corona-Zeit durften sie oft nur über Videotelefonie üben. Ich zog meinen Hut vor ihrer Beharrlichkeit, dem Film und dem Buch gerecht zu werden und wie sie den Text mit ihrer eigenen Künstlerrealität abglichen.

Letztlich trug die viele Arbeit Früchte (allein die Komposition dauerte ein Jahr, der Film selbst war seit fünf Jahren im Entstehen): am 2.11.2022 wurde der Kurzfilm im Museum Gunzenhauser, das zu den renommierten Kunstsammlungen Chemnitz gehört, im Rahmen eines Filmabends mit Livemusik (Violine Antonia Winger, Cello Amos Janz, Gesang Alina Dillner, Klavier Alex Florian Lingath) uraufgeführt. Die Komposition von Ensemble C wurde zudem im darauffolgenden Jahr noch preisgekrönt: 2023 gewann sie beim 60. Landeswettbewerb Jugend musiziert in der Kategorie „Jumu open“ in Zwickau den ersten Preis, im Sommer dann ebenfalls den ersten Preis beim Bundeswettbewerb.

Auch für mich als Filmemacher waren das sehr glückliche Momente. L’HIVER DE L’ÉTERNITÉ lief auf zahlreichen Festivals weltweit und gewann sogar beim Denver Underground Film Festival den Preis für den Best Nature Experimental Short Film. Es ist vielleicht mein persönlichster Film.

Die Welt scheint mittlerweile wieder in weitgehend gewohnten Bahnen zu verlaufen. Rückblickend wirkt diese kleine Odyssee unwirklich und schön zugleich. Unwirklich, weil alles irgendwie neu, verwirrend und ungewohnt war, und schön, weil die glücklichen Momente im Angesicht der permanenten Krisenstimmung umso intensiver erlebbar waren. Für alles bin ich sehr dankbar, 24 mal in der Sekunde.

Mehr zu Patrick Müllers Filmen auf seiner Homepage www.patrickcinema.de

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